Vertreibung aus dem Paradies

Hoehlenzeichnung von lsitzendem Mann

Weltverbesserungskonzepte existieren wie Sand am Meer, keines war bisher erfolgreich. Während die Physik noch im Heu stochert, scheint die Pataphysik, die Wissenschaft der imaginären Lösungen, mit ihren burlesken, absurden Antworten die Nase vorn zu haben.

 

Norbert Stein seinerseits ist Patamusiker und äussert sich auf seiner neuen CD Silent Sitting Bulls zu existentiellen Fragen des Klangs und zum Ende paradiesischer Zustände. „Nur die Pataphysik unternimmt nichts um die Welt zu retten“, schrieb das Collège de Pataphysique (1948 vom Absurdisten und Bühnenautor Alfred Jarry [Ubu] in Paris gegründete Künstlergruppe, der u. a. Max Ernst, Jean Baudrillard, Umberto Eco, Man Ray und die Marx Brothers angehörten). Dem kann Norbert Stein etwas abgewinnen.

Klaus Hübner: Den Begriff „Pataphysik“, dessen erster Wortteil in Ihrem Projekt „Pata Music“ steckt, einmal als Wissenschaft der imaginären Lösungen gedeutet: Streben Sie mit Ihrer Musik derartige Lösungen an?
Norbert Stein: Zumindest weist er auf den Versuch hin, etwas mit Tönen zu fassen, was es zu fassen gibt. Darum geht es: Die Musik als die Kunst zu zeigen, die dem Menschen etwas Wesentliches zur Darstellung und Kommunikation gibt.
Klaus Hübner: Der französische Schriftsteller Alfred Jarry ist literarisch tief in die Pseudowissenschaft Pataphysik eingestiegen, etwa mit seinem Buch über Dr. Faustroll. Gibt es bei Ihnen eine geistige Verwandtschaft?
Norbert Stein: Als junger Mensch habe ich, in Jarrys bekanntestem Stück König Ubu lesend, in der damaligen Normalität etwas gespürt und entdeckt, was über das mir in den Lebensumständen sich Zeigende hinauswies. Das burleske Stück deutet mit den elementaren Kräften der Hauptfigur darauf hin, dass es hinter den Grenzen der Normalität noch mehr gibt. König Ubu bedeutet für mich den Aufbruch in etwas Gespürtes, aber noch nicht Bekanntes.

Sozialisation

Klaus Hübner:  Wie entstand Pata Music?
Norbert Stein: In meinem Werdegang vom Saxofonisten, der auf seinem Instrument etwas formuliert, kam ich immer mehr dahin, über das Instrument hinaus formulieren zu wollen, sprich: zu komponieren. Ich wollte Dinge, die mir wertvoll waren, erfassen und ihnen einen Namen geben. Auch Angesichts einer Situation, in der die Quellen sehr vielseitig waren mit europäischer Musik, Neuer Musik, Jazz, Volksmusik, allem, was musikalische Sozialisation begründet. Ich brauchte einen Namen, der dafür offen war. Im zeitlichen Abstand zu dem eben beschriebenen Lesen tauchte Pata physique, dann Pata musique auf. Über diese Lautverschiebung fand ich ein Wort, dem meine Seh- und Herangehensweise nicht unähnlich ist.
Klaus Hübner: Wie real ist die Realität? Inwieweit ist der Mensch daran beteiligt, die Realität zu formen, wenn man voraussetzt, dass auch er nur ein Teil des natürlichen Kreislaufs ist?
Norbert Stein: Das ist ein unwahrscheinlich spannendes Thema, mit dem sich nicht nur die Philosophie, sondern auch die moderne Physik beschäftigt. Was ist Realität? Man hat ersucht Realität festzumachen, damit der Mensch einen Bezugspunkt hat. Vor einigen Jahrzehnten kamen Erkenntnisse, vor allem die der Quantenphysik, die den Menschen dazu zu bringen, sich und die Welt ganz anders zu verstehen. Die Welt, in der wir leben, ist eine reale. Aber was das ist, ob es die einzige ist, das ist dahingestellt. Es gibt Untersuchungen, die sagen: Dem ist nicht so. Mit dem, was Realität sein kann, bin ich musikalisch konfrontiert – und meine Musik soll dem standhalten.
Klaus Hübner: Ist es ein Spezialgebiet von Ihnen, dieses komplexe philosophische Thema in Musik umzusetzen?
Norbert Stein: Eigentlich nicht. Mich haben schon immer Leute interessiert, die in ihrer Kunst der Wahrheit verpflichtet waren. Es ging meiner Meinung nach damals nicht nur um Amusement und Zeitvertreib, sondern um elementare Dinge. In der freien Musik waren Kräfte am Werk, die mich sehr beeindruckten. Sie hat die Oberfläche das mir Bekannten aufgekratzt und unbekannte Kräfte zu Tage gebracht. Zum Beispiel Cecil Taylor – bei seinem Klavierspiel geht es weniger um Töne. Sie sind nur Mittel zum Zweck, auf die Tastatur transponierte große Bewegungen darzustellen. Mich interessierte Musik, wenn sie als Kunst etwas von dem anzudeuten schien, was Realität ist. Wenn wir etwas tun oder etwas uns Unbekanntes aufnehmen, tun wir das als Wesen, das schon geformt ist. Dem Rechnung zu tragen und damit spielerisch umzugehen, gehört zur Pata Music.
Klaus Hübner: Wie stark ist der Einfluss fremder Kulturen auf Ihre Musik?
Norbert Stein: Alles, dem ich begegnet bin oder was mich beeindruckt hat, ist erlebt. Auch wenn es subjektiv wahrgenommen wurde, entstehen Referenzpunkte. Wenn ich weiß, wie ein Gamelan-Orchester klingt, weil ich das metallenen Fließen und das Tonsystem gehört habe, dann ist in meinem Innern eine klangästhetische Referenz vorhanden, die sich mit dem verbindet, was ich in die Musik hineininterpretiert habe. Diese Referenzen sind für mich Navigationspunkte im Meer der Möglichkeiten, mit dem ich mich im Unbekannten bewege. Kulturen sind lokale Ereignisse, die alle das Gleiche versuchen: das zu fassen, was Musik fassen kann. In meiner Musik ist die Matrix aller Stücke das Feld, auf dem die Musiker im freien Spiel miteinander agieren. Es gibt immer den Punkt, an dem die Spieler aus dem, was notiert ist, entlassen werden und ins Reich der absoluten Freiheit gehen.
Klaus Hübner: Das Stück „Paradise Lost“ beklagt den Verlust eines idealen Zustandes?
Norbert Stein: Die Musik entsteht durch das kompositorische Arbeiten, etwas zu finden, das etwas Wertvolles enthält, um es in eine künstlerisch interessante Verlaufsform zu bringen. Das muss möglichst deutlich werden. Gleichzeitig will das Kind einen Namen haben, Die Titel liegen nicht in den Noten, sondern kommen oft aus dem, mit dem ich mich gleichzeitig beschäftige. Sie sollen Deutungsvielfalt haben. Bei „Paradise Lost“ ist es der choralhafte Anfang. Das Stück beschreibt den Sturz des Menschen aus dem Paradies in die Jetztzeit.

Interview von Klaus Hübner, Jazzthetik